Kapitel 4: Die Herrinnen von Nathum
Nov 16
23 Min. Lesezeit
1
10
0
Die Unterredung mit der Matriarchin verlief nicht besonders berauschend. Aronya sah es nicht gern, wenn sich ihr Bruder seines Standes ungebührlich verhielt. Und weil sie Arajon persönlich für die Vorkommnisse in der Draq’enar verantwortlich machte, bekam er einiges zu hören. Er konnte von Glück sprechen, dass sie seine Cousine war, weshalb er größeren Bestrafungsprozeduren entging. Außerdem gab es deutlich wichtigere Themen zu besprechen, weshalb sie von Konsequenzen absah. Wohl zumute war ihm dennoch nicht. Denn verbal gezüchtigt hatte ihn Aronya allemal. Das nicht nur aufgrund der Eskapaden der letzten Nacht, sondern auch, weil sie seine Pflichtbewusstheit in Bezug auf die Ereignisse in Nathum in Frage gestellt hatte.
Als Kommandant der Blutklingen oblag es Arajons Verantwortung, die Provinzen Rayans zu sichern, das galt insbesondere für jene im Grenzgebiet. Rayans Matriarchin pflegte eine gute Freundschaft mit ihrer Amtskollegin im Süden und diesen wollte sie nicht wegen lausiger Verfehlungen ihres Militärstabs aufs Spiel setzen. Gift und Galle hatte sie gespuckt, ihm jedes schäbige Schimpfwort an den Kopf geworfen, das ihr in ihrem Zorn über den Ritualmord von Nathum in den Sinn kam. Mit seiner Amtsenthebung hatte sie gedroht, wenn er diese Angelegenheit nicht umgehend aufklären würde. Und sie war nicht im Unrecht. Es war das grausamste Massaker, das Rayan seit der Zeit der alten Blutsfehden erlebt hatte. Ein Armutszeugnis für sein Regiment und eine ernste Bedrohung für die diplomatischen Beziehungen mit Nemesava. Den Aufstand, den die nemesischen Ältesten vor einigen Tagen im Ratsgebäude probten, hatte er nicht vergessen. Sein Schwager war einer von ihnen. Der mürrische Sittenwächter hatte Arajon noch nie besonders gemocht und diesmal hatte er allen Grund dazu, ihn vor den versammelten Ratsmitgliedern bloßzustellen. Der Täter war bestialisch und über alle Maßen brutal vorgegangen, mit einer klaren Kriegserklärung gegenüber dem Nachbarreich. Dass er noch auf freiem Fuß war, würde man schon bald dem Lord-Kommandanten anlasten.
Die heißen Dämpfe, die aus dem Thermalbecken der Siedegrotten aufstiegen, kaschierten den Schweiß, der ihm beim Gedanken an das Publikwerden der Bluttat auf die Stirn trat. Das Wasser war wie immer etwas zu heiß. Wenn Aronya so versessen darauf war, Personalveränderungen vorzunehmen, sollte sie beim Thermenwart anfangen. Verdrossen baumelte der Kopf des Kommandanten auf seinen Schultern. Und nicht einmal in der Abgeschiedenheit des Badehauses war er vor dem Krawallbruder sicher, der gestern Nacht alles nur noch schlimmer gemacht hat.
Aaron schlurfte mit einem mächtigen Kater auf die Becken zu. Als er seinen Vetter missmutig am Gewässerrand vor sich hindümpeln sah, war seine Frage danach, warum er heute Morgen im Palast aufwachte, schnell geklärt.
»Ah, mein Blutengel!«
Arajon tat sein Bestes, um die Fassung nicht zu verlieren. Doch sein Cousin machte ihm das noch nie besonders leicht. Mit viel zu viel Schwung sprang er neben dem Kommandanten ins Wasser und stöhnte unüberhörbar, als das warme Wasser seinen nackten Körper umspülte. Ein paar von Aronyas Hofdamen kicherten verstohlen am anderen Ende des Thermalbeckens. Das war genau die Art von Aufmerksamkeit, die Arajon gerade gar nicht gebrauchen konnte.
»Musst du ständig so ein exzentrischer Großkotz sein,« maulte er entnervt.
»Was ist denn schon wieder los mit dir?«
Aaron hatte kein Verständnis für die Launen seines Vetters. Schließlich wer er es und nicht Arajon, der sich gestern von diesem Halbstarken in der Arena eine ordentliche Schnittwunde eingefangen hatte. Dieser unverschämte Bengel. Hoffentlich lag sein Kiefer morgen noch in Trümmern.
»Was mit mir los ist? Was mit MIR…« Arajon riss den im wohligen Nass planschenden General zurück zu sich an den Beckenrand.
»Wir haben ein Problem. Ein beschissen großes Problem,« bläute er Aaron ein. »Der Grenzwald ist am Toben und du schlägerst dich nachts mit irgendwelchen Welpen im Sandkastengeplänkel.«
Aaron verstand kein Wort, aber sein Blutsbruder schien mal wieder ziemlich schlecht gelaunt. Warum die Eulengräfin diesen Griesgram ihm einst vorzog, verstand er bis heute noch nicht.
»Jetzt krieg dich schon ein Raj. Du bist zu Blutmond noch schlimmer drauf als ich.«
Der General wusste mit seinem hitzköpfigen Kommandanten umzugehen. Schließlich waren sie wie Brüder. Dass er unter vier Augen so manches mal vergaß, wer sein Vorgesetzter war, übersah Aaron nur allzu gerne. Immerhin hätte das Amt des Generals eigentlich Arajon gebührt. Er war es, der der Raji’Draq einst gegründet hatte, um aus Rayans schlecht organisierten und wenig kultivierten Söldnerbanden ein vorzeigbares Heer zu formen. Dass das oberste Amt des Aaron zufiel, lag einzig und allein daran, dass er der Zwillingsbruder der Matriarchin war. Aus diesem Grund ließ er sich meist brav von dem Blutklingenmeister unterweisen. Das jedoch nicht, ohne hin und wieder zu sticheln.
»Lass mich Raten. Sie hat dich wieder nicht rangelassen, mh?«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Arajon packte Aaron am Genick und zwang ihn gewaltsam unter Wasser. Dort beließ er ihn für eine Weile, ehe er ihn nach Luft japsend wieder auftauchen ließ.
»Hey, hey. Nicht so stürmisch, mein Blutengel,« feixte der General, noch immer etwas außer Puste. »Lad mich doch vorher erst mal zum Essen ein!«
Aaron hatte großen Spaß daran, seinen Kommandanten aus der Reserve zu locken. Doch das Rumgealber sollte nicht lange währen. Ein dunkelhäutiger Schrank von einem Mann fand seinen Weg ins Badehaus. Er steuerte geradewegs auf die beiden Rayonaigh zu und drängte die Streithähne mit seinen muskelbepackten Schultern förmlich auseinander, als er das Becken bestieg. Neben Zakane fühlten sich die zwei irgendwie immer ein Stückchen kleiner. Was wahrscheinlich daran lag, dass er gut einen Kopf größer als sie und mindestens doppelt so breit war. Arajons erster Offizier blickte noch finsterer drein als der Kommandant selbst und das konnte nichts Gutes heißen, wie Aaron schnell befand.
»Habt ihr beide auf ‘nem Nagelbrett geschlafen, oder was?«
Arajon verschränkte die Arme.
»Sag es ihm ruhig.«
Zakane benetzte sein Gesicht mit dem schwefelhaltigen Thermalwasser. Dann prustete einmal kräftig und erstattete dem General Bericht zu den Vorkommnissen bei Nathum. Er erzählte ihm von den Frauenleichen, die er dort in einem Hügelhaus vorgefunden hatte und von dem bestialischen Kalkül, mit dem sie regelrecht hingerichtet worden waren. Aaron verflog schlagartig jeglicher Humor.
»Ich glaub‘ ich muss mich übergeben.«
Das ganze Gerede von Eingeweiden und förmlich sezierten Frauenleichen schlug ihm auf den noch nicht ganz nüchternen Magen. Er sann schon nach dem Ausstieg am Beckenrand, doch eine kräftige dunkle Männerhand legte sich ihm auf die Schulter.
»Da ist noch mehr,« informierte ihn Zakanes basslastige Stimme. Der Offizier stützte seinen stämmigen Körper mit den Oberarmen am Beckenrand ab. Aaron und Arajon taten es ihm gleich. Offensichtlich wollte er nicht, dass auch nur ein Wort von dem, was er zu sagen hatte an die Ohren der übrigen Anwesenden im Becken geriet, auch wenn sie scheinbar weit genug weg saßen, um etwas aufzuschnappen.
Die Geheimniskrämerei sollte sich als sinnvoll erweisen. Laut Zakanes Angaben hatte sein sensibler Riechkolben auf dem Weg ins Badehaus nämlich einen Geruch wahrgenommen. Einen äußerst speziellen Geruch. Angst. Der Bluttrinker war berühmt für sein findiges Näschen. Er konnte die Zusammensetzung jedes alkoholischen Getränks am Stammtisch im Goldenen Fasan bis auf den prozentualen Anteil genau bestimmen. Das Gleiche galt für Mahlzeiten, Körpergerüche und all die anderen Duftnoten, die ihm um die Nase wehten. Ein Mitgrund dafür, dass er sich nicht gerne in der Hauptstadt aufhielt. Die penetranten Parfümwolken der Adelsdamen strapazierten seine olfaktorischen Kapazitäten. Jedoch nicht in diesem Fall.
Der Angstgeruch stammte von einem schmächtigen Burschen, der Zakane offenbar gefolgt war und sich just in diesem Moment gekonnt hinter Aronyas nackten Zofen versteckte. Umringt von vollbusigen Frauenkörpern hätte man ihn bei all dem Wärmedunst erfolgreich übersehen, wenn der ebenholzhäutige Raji’Draq ihn nicht entdeckt hätte. Der Spion wähnte sich noch immer in Sicherheit. Und daran sollte sich vorerst auch nichts ändern.
»Sie will, dass ihr sofort aufbrecht.«
Zakanes eindringliche Worte deuteten darauf hin, dass seine Herrin Aronya für ihn wohl andere Pläne hatte. Folglich machten sich Aaron und Arajon ohne ihn auf nach Nathum, um dort die Einheimischen zu befragen.
Die kleine Provinz lag an der Südostgrenze in unmittelbarer Nähe des aktiven Vulkans Nath. Zwar schleuderte der brodelnde Riese nur alle paar Jahrhunderte einmal mit einer nennenswerten Menge Lava um sich, doch Erdstöße und Ascheregen gab es nach Aussagen der Dorfältesten immer wieder einmal. Wohl deshalb reichten die Erdgewölbe der Hügelhäuser rund um Nathum so unendlich tief. Sie fungierten bei Bodenerschütterungen als Puffer und boten außerdem Zuflucht in tieferen Bereichen, wo Erdbeben für gewöhnlich etwas schwächer ausfielen. Zusätzlich besaß Nathum einen in ganz Gardyan beneideten Kristallschild. Die resonierenden Rhodolithkonsolen des Schilds waren das arkane Meisterwerk örtlicher Magier und reagierten auf jedwede Erschütterungen des Gesteins. Ihre Energiefelder setzten sich automatisch in Gang, wenn eine Eruption drohte. Der geolithische Schutzwall hatte über die Jahrhunderte schon so manchen Lavafluss von der Provinz ferngehalten. Immer wieder peitschte die Magma an dem Arkanschild empor, kühlte ab, verwitterte in Teilen und zersplitterte dann bei einem erneuten Vulkanbeben, wodurch sich messerscharfe Fragmente einer Basaltkuppel um den Schild bilden konnten. Ihretwegen gab die Grenzstadt schon von weitem einen imposanten Blickfang für jeden Reisenden ab, auch wenn der Schild inzwischen stark nachließ.
Aaron staunte nicht schlecht, als sie im Morgengrauen die Talbresche der Natharangan-Kluft erreichten. Sicher, auf Karten hatte der General den Bezirk schon öfter vor sich. Aber die Zeichnungen hielt er meist für übertriebene Fantasien künstlerischer Freiheit aus Händen der Kartographen. Die Zügel straffend gängelte er seinen Drachen Aragosh langsam vom Sinkflug in die Landung, ehe er das majestätische Tier auf einer Anhöhe niedersetzte.
In all den Jahren hatte er es nie bis an die östliche Außengrenze Rayans geschafft. Meist war er auf der Drachenzinne ganz schön eingespannt und wenn er hin und wieder eine Auszeit brauchte, verschlug es ihn in der Regel in die Hauptstadt oder etwas weiter nach Süden.
»Kommst ja ganz schön rum,« raunte Aaron seinem Arajon zu, als dieser unweit seiner Position mit Rasheku ebenfalls zur Landung ansetzte.
»Kämst du auch, wenn du öfter mal die Außenbezirke inspizieren würdest.«
Der Kommandant entspannte sich im Flugsattel. Die nächtliche Route über die Rakatan-Steppen saß ihm ganz schön im Genick. Unter leichten Knacksgeräuschen streckte er sich und nahm erst Mal einen Schluck aus seinem ledernen Trinkschlauch.
»Bis ins Grenzgebüsch meinst du?«
Sein Vetter konnte es einfach nicht lassen. Vielsagend beugte er sich über sein Sattelhorn in Arajons Richtung und war wie immer viel zu neugierig.
»Jetzt sag schon. Hast du sie vor dem ganzen Scheiss hier noch mal gevögelt oder nicht?«
Der Kommandant hielt sich zurück, so schwer es ihm auch fiel. Er war gestresst genug und hatte beim besten Willen keinen Sinn für Aarons kindische Provokationen.
»Eine nemesische Frau vögelt man nicht. Man macht Liebe mit ihr,« sprach er brühernst und steckte seinen Trinkschlauch zurück in die Satteltasche. Dass seine Schilderung nicht immer zutraf, wusste er selbst, aber er wollte, dass dieser redselige Idiot neben ihm endlich Ruhe gab.
»Ah, ich verstehe.«
Sein General war indes noch lange nicht fertig mit seinen unangebrachten Kommentaren.
»Na dann hoffe ich, dass dein Liebemachen mir alsbald eine Schwiegertochter beschert.«
Die wurde ihm nämlich versprochen, dafür, dass er sich seinerzeit freiwillig wie ein Ehrenmann aus dem Buhlen um die Gunst von Arajons Herzensdame, nun Gemahlin, zurückzog.
»Hast du denn den Schwiegersohn dazu schon geliefert? Dein Welpe winselt ja offenbar eher wie ein Mädchen.«
Abschätzig fiel ein Blick zu dem frisch gebackenen Vater, um ihm die frohe Botschaft zu verklickern. Dessen verdutzter Blick war all die Genugtuung, die der Kommandant brauchte.
»Der Bursche soll ganz schön nach dir kommen,« ließ Arajon ihn wissen, gespickt mit einem süffisanten Grinsen. »Schreit rum wie am Spieß, wenn er keinen Nippel abbekommt. Ob ich das meiner künftigen Tochter zumuten will, muss ich mir noch überlegen.«
So perplex und wortkarg sah man Aaron selten. Er hatte von der Geburt seines Sohnes noch gar nichts erfahren. Wie auch bei der ganzen Aufregung.
»Es ist ein Junge?!«
In ganz Rayan gab kaum eine Neuigkeit dieser Größenordnung, die Arajon nicht als erstes erreichte. Die Drachenreiter von der Ehrengarde hatten es ihm am Abend auf der Draq’enar gesteckt. Sie machten bei ihren Rundflügen regelmäßig auf der Drachenzinne halt, um ihre Flugechsen zu versorgen. Und in dieser schicksalhaften Blutmondnacht sollte dabei aus den Gemächern der Burgherrin das ohrenbetäubende Geschrei eines frisch geborenen Fuchsblutes mit äußerst kräftigen Lungen an ihr Ohr dringen.
»Wie man hört…«
Seine Lederhandschuhe straffend und seinem schuppigen Reittier sachte die Kehle tätschelnd, machte sich der Kommandant ohne weitere Umschweife daran, auf Rasheku ins Tal hinabzugleiten. Seinen völlig entgeisterten General ließ er kurzerhand auf der Anhöhe zurück.
»Hey, warte mal! Ich bin gerade Vater geworden und du hast nichts Besseres zu tun, als mich ans andere Ende des Reiches zu verschleppen?! Arajon!«
Ungehalten gab Aaron seinem Kriegsdrachen einen Klapps auf die Flanke und setzte seinem Vetter zu einer rasanten Verfolgungsjagd ins Tal nach.
Die Sonne blitzte bereits hinter den Wipfeln hervor, als sie in Nathum ankamen. Ihre Drachen ließen sie zur Rast auf den weitläufigen Auwiesen zurück, die der Höhenburg vorgelagert waren. Die Burgstraße führte an einem ruhigen Rinnsal aus zäh fließender Magma entlang. Es war der natürliche Abfluss der großen Schmiede von Nath, die hinter den Mauern der Provinzstadt ruhte. Die Temperaturen der siedenden Glut hatten die Moortümpel im näheren Umkreis fest im Griff. Unentwegt stieg ein schwüler Dunst aus den sumpfigen Teichen auf. Gleichwohl fungierte der gleißende Strom wie eine natürliche Beleuchtung für die Bergstiegen, die im Schatten des Vulkanschlotes zu der verwegensten aller Siedlungsbauten auf rayanischem Boden führten.
In klarem Kontrast dazu fiel der Empfang unterkühlt aus. Die Ritualmorde hatten die ganze Provinz in Angst und Schrecken versetzt. Zwar waren die hohen Fialen-Türme der alten Grenzstadt durch robuste Steinmauern gut geschützt, doch wer wusste schon, welche niederträchtigen Kreaturen sich im Dunkel der Nacht Einlass in die Stadt verschafften? Nathum hatte sich zur Sicherheit seit gut einer Woche von der Außenwelt abgeschottet. Weder Wort noch Ware drang von außen nach innen oder umgekehrt, was allmählich die Vorräte der Hügelfestung aufzehrte. Dass es Tage dauerte, bis sich der Oberbefehlshaber der Streitkräfte hier blicken ließ, war für viele ein Affront. Immerhin hatten sie Drachen und hätten binnen weniger Stunden hier sein können, wenn sie denn wollten. Viel beschwerlicher und auch gefährlicher war der Weg zu Fuß oder zu Ross für jeden Boten, der sich im Zuge der Ereignisse nach Rubinstadt aufgemacht hätte. Die Anzahl derer, die sich für dieses Unterfangen freiwillig gemeldet hätten, war ohnehin überschaubar.
Aaron konnte die argwöhnischen Blicke der Einwohner wie Dolchstöße in seinem Rücken spüren, als er mit Arajon durch die Gassen Richtung Ratsgebäude Schritt. Dort angekommen, erwartete sie eine aufgebrachte Frauenschar. Eine ungewohnt bunte Mischung aus rayanischen und nemesischen Provinzschnepfen keifte die beiden förmlich in die Halle und machte ihnen die Hölle heiß, noch bevor sie am Ratstisch Platz nehmen konnten, der für die Anhörung vorbereitetet worden war.
Arajon würde sich zu den auf sie einwetternden Vorwürfen nicht äußern. Das sollte schön sein lieber Herr General entschärfen. Der rutschte am Tischrand entlang immer weiter zurück, sprangen ihm die Furien doch förmlich ins Gesicht. Ein Ende fand der kreischende Chor erst, als die hohen Türen zum Ratsgebäude erneut lautstark aufsprangen. Die Anwesenden horchten auf. Hinter ihnen braute sich ein feuriger Sturm zusammen.
»Setzt euch gefälligst.«
Eine schillernde Persönlichkeit aus Nathums Oberschicht orderte ihre Hühner auf die Sitzbänke. Die zwei Raji’Draq fühlten sich gleichermaßen angesprochen und setzten sich zeitgleich. Arajon lümmelte sich ermüdet auf den Stuhl und packte sein Schreibzeug aus. Er kannte die aufbrausende Rädelsführerin und war froh, dass sie ihren boshaften Pöbel unter Kontrolle bekam. Ruhe kehrte deshalb aber noch lange nicht ein. Mit einem Dutzend weiterer Frauen im Gefolge rauschte die örtliche Naturgewalt schnurstracks auf die beiden Auswärtigen zu. Ihr Kiefer war etwas markant und ihre Stimme etwas tief für eine gewöhnliche Dame, aber ihr Gespür für die neuesten Mode-Extravaganzen machte deutlich, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes eine prächtige Diva war. Eine Pelzstola um die Schultern und einen kunstvoll gewundenen Turban auf dem Kopf, schlackerten ihre übergroßen Ohrringe bei jedem Schritt, den sie mit ihren High Heels auf das Inspektoren-Duo in spe zumachte, an ihrem schlanken Hals. Vor dem Ratstisch angekommen, knallte sie den beiden einen übergroßen Buchwälzer vor den Latz und fixierte zunächst Arajon mit ihren bedrohlich flackernden, bernsteinfarbenen Leuchten.
»Ist er das?«
Arajon nickte brav, wie es von ihm erwartet wurde und schwang einen Arm hinter die Stuhllehne. Anschließend begann seine Schreibfeder damit, monoton eine wahllose Stelle auf dem leeren Pergament vor ihm zu punktieren, während er sich darauf gefasst machte, dass die Parteien in diesem Verhör alsbald die Rollen tauschten. Das kecke Frauenzimmer war Lady Dakeda, Statthalterin von Nathum und eine wohlhabende Handelsexpertin. Sie hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf.
»Hört mir gut zu, Herr Saaron oder wie Ihr heißt,« grollte sie in Aarons Richtung, ihren langen Hals einer Viper gleich nach ihm ausstreckend. »Es ist mir gleich, wessen General Ihr seid, aber Ihr werdet jetzt eure bleichen Lauscher spitzen und mir gut zuhören.«
»Aha!«
Das Gefolge in ihrem Schlepptau, bestehend aus Gutsherrinnen und Händlerinnen heizte sie an.
»Zwei Jahre. Seit zwei Jahren warten wir hier auf die Rhodolithlieferung aus Rubinstadt und nicht einmal hielt Eure Möchtegernkompanie es für nötig, die Eskorte für diese kostbare Fracht bereit zu stellen, auf dass sie endlich ankäme.«
»Aha!«
Aaron versuchte sie mit charmanten Worten zu beschwichtigen:
»Wie könnte ein Mann einer solch eleganten Dame wie Euch je ein Gesuch verw…«
»Ich bin noch nicht fertig,« unterbrach sie ihn schnippisch. »Ich weiß nicht, welchen liederlichen Geschäften Eure Zinnsoldaten dort oben im Norden nachgehen, aber ihrer Pflicht ganz gewiss nicht.«
Sie schlug das riesige Buch auf und schob es Aaron unter die Nase. Darin vermerkt waren sämtliche Einbrüche und Straftaten der letzten Dekade. Arajon warf einen Blick auf die letzten Einträge, während Lady Dakeda weiter seinen Blutsbruder in die Mangel nahm.
»Glaubt ja nicht, uns wäre nicht bewusst, dass ihr aus dem Norden unsere Provinz wie euren unliebsamen Hinterhof behandelt.« Ihre Worte klangen bedrohlich. »Ihr mögt uns eure Stadtwachen aufgezwungen haben, doch wenn dieses Theater so weiter geht, werden wir die Qebele wieder einführen und dann ist Schluss mit euren Diktaten.«
Ein Händeschnippen zischte dicht an Aarons Gesicht vorbei, bedeutungsschwanger untermalt vom Schnippen der übrigen Damenschaft um ihn herum. Hatten die Weiber das einstudiert?
»Nun, das wollen wir doch nicht,« versuchte Arajon die Situation zu entschärfen. In der Tat wollte das niemand im Norden. Die Qebele waren die alten Bezirksverwalter von Nathum. Sie waren bekannt für ihre Feindseligkeit Fremden gegenüber und hatten Rayans Thron zu Zeiten der Herrschaft von Aarons Mutter die mit Abstand größten Probleme beim erfolgreichen Abschluss der Friedensverhandlungen bereitet. Ihr Herz schlug nemesisch, doch ihre Mentalität war eindeutig rayanischer Abstammung. Mit Gefangenen machten sie kurzen Prozess und opferten ihr Blut der großen Schmiede in der Klingenhöhle des vulkanischen Bergfrieds. Arajons Waffen wurden einst in ihr gefertigt. Rajakhan war ein edles Breitschwert, Radakhan ein mächtiger Kampfdolch. Die Hohlkehlen beider Klingen durchzogen bordeauxfarbene Adern aus Cinnabaritstahl – ein Metall das in ganz Gardyan nur am Nath abgebaut wurde. Ein Meisterwerk Nathum’scher Schmiedekunst, deren Hammerführung mit jedem Schlag von der kriegserprobten Natur dieses Grenzvolkes kündete.
»Lady Dakeda, wann genau sind diese Waffenlieferungen abhandengekommen?«
Arajon lenkte die Konversation gekonnt wieder auf das Wesentliche.
»Vor zwei Monden, genauso wie die Schlüssel zu Eurem schändlichen Tatort.« Die Wohnhöhle, in der sich die Bluttat ereignet hatte, gehörte einer der Gutsherrinnen in Dakedas Geleit. Ein Notbunker für den Fall eines Vulkanausbruchs, der ansonsten die meiste Zeit leer stand. Nur gelegentlich vermietete die Hausbesitzerin ihr Eigentum an Reisende. Und derer gab es bedingt durch die abgeschiedene Lage Nathums nicht viele.
»Wo genau haben die Diebe zugeschlagen,« forschte der Raji’Draq weiter, sehr zur Erleichterung seines Generals, der mit dem wütenden Damentross heillos überfordert war.
»Am Bernsturz.« Dakeda zügelte ihren Zorn, wenn auch nur für einen Moment. »Dort könnt Ihr Euch auch gleich nach der niedergebrannten Jagdhütte von Waldsang umsehen, nachdem ihr diesen widerwärtigen Metzenstall der alten Holzbein endlich dicht gemacht habt.«
Ein letzter scharfen Blick in Aarons Richtung quittierte ihre Worte, ehe sich weiterer Protest an der Pforte der Ratshalle ankündigte.
»Mein Metzenstall macht mehr Umsatz mit Euren Männern als Ihr selbst.«
Eine raue, verrauchte Frauenstimme forderte Dakeda offen heraus. Die wandte sich um und sollte unweigerlich ihre erklärte Erzfeindin hinter den Sitzreihen des Ratsgebäudes erblicken.
»Wie ich sehe habt Ihr Eure Rabentöchter schon zum Abflug bereit gemacht.«
Auch Mama Holzbein war nicht alleine gekommen. Nach den jüngsten Geschehnissen ließ sie ihre Mädchen nicht mehr aus den Augen. Den Roten Raben aufzugeben, lag ihr dennoch fern.
»Nichts dergleichen.«
In geordneten Reihen wies sie ihre Freudenmädchen auf die leerstehenden Sitzbänke nahe der Pforte, darunter ein junges Mädchen mit verbundenen Augen. Arajons Blick hatte sie schnell in der Menge ausgemacht. Kränklich sah sie aus und zutiefst verstört. Dakeda nahm davon kaum Notiz oder überspielte es zumindest gekonnt.
»Eure Spelunke hat uns nichts Ärger beschert,« warf sie der alten Holzbein offenkundig vor. »Mörder, Diebe, Taugenichtse – Ihr schart sie alle um die Schöße Eurer Huren.«
»Lady Dakeda, ich bitte Euch.«
Endlich rang sich auch Aaron wieder zu einer seiner berühmt berüchtigten Reden durch.
»Die Geschäfte einer Frau sind ihre eigene Angelegenheit, ganz gleich der Art ihres Handels.«
Er stand auf und nickte Mama Holzbein mit wohlwollendem Blick zu ihren jungen Kurtisanen in die Sitzreihen.
»Wir werden die Anhörung nun beginnen und selbstverständlich gebührt Statthalterin Dakeda das erste Wort. Meine Damen.«
Auch Dakedas Clique wurde nun sanftmütig in die erste Reihe verwiesen. »Lasst mich zunächst mein aufrechtes Beileid zu den tragischen Vorkommnissen aussprechen, die Eure edle Stadt erschüttert haben. Das Haus Arayona wird für alle entstandenen Schäden aufkommen und sich der Sache selbstverständlich mit gebührender Priorität annehmen. Nichts soll die ehrenhaften Handelsbeziehungen zwischen Nathum und Rubinstadt je erschüttern. Dafür verbürge ich mich als euer untertänigster Diener.«
Um ein Haar wäre Arajon bei den vor Schmalz triefenden Worten seines Vetters ein Augenrollen entfleucht. Immerhin war sein dramaturgisch ausgereiftes Gebaren erfolgreich. Einen tiefen Hofknicks in die Runde schickend, gelang es dem General, die Herrinnen Nathums gnädig genug zu stimmen, um die Anhörung ohne weitere Eskalation ihren Lauf nehmen zu lassen.
»Da der geschätztem Lady Dakeda der Vorsitz gebührt, obliegt es Ihr, als erste zu sprechen.«
Lady Dakeda nahm auf dem Zeugenstuhl Platz und verschränkte die Arme. Den Befragungen vorausgreifend, gab sie an, dass man den Großteil der Anwesenden ohnehin gleich wieder aus dem Sall entfernen könne. Gesehen hätten die meisten nichts, dafür aber umso mehr gehört. Ein junger Adliger aus Hauptstadt und sein Handlanger sollen sich mit ihrem Waffenkoffer in den letzten Wochen des Öfteren von einem Leichenkarren in den Wäldern Nathums herumkutschiert haben lassen. Mal vor der Grenze, mal hinter Grenze. Mehr war nicht bekannt. Viele hielten ihn für einen Leichenschauer oder einen dieser verschrobenen Antatomiker, die sich an frisch verstorbenen Leichen vergehen, um ihre physischen Besonderheiten zu studieren.
Die Information ließ Aaron und Arajon einige geheime Blicke tauschen. Es gab nur eine Hand voll Familien in Rubinstadt, die sich mit dieser Art von medizinischer Forschung beschäftigten. Nur drei davon standen dem Blutkult so nahe, dass ihr Profil zu den abscheulichen Details der Morde gepasst hätte.
Die Beschreibungen des Waffenkoffers, die einige zur Anhörung geladenen abgaben, passten des Weiteren zu den verschollenen Folterwaffen, die der Täter bei der Schändung der Nyeda Schwestern eingesetzt hatte. Er war zu klein für ein Schwert, aber groß genug für eine Blattsäge, mit der das Monster eine der Schwestern gewaltsam seziert hatte.
Von größter Bedeutung waren hingegen die Aussagen Mama Holzbeins und ihrer gepeinigten Kronzeugin. Die Ratshalle hatte sich im Laufe der Stunden deutlich geleert, sodass nur noch die Frauen des Roten Raben und Lady Dakeda übrig waren. Letztere weigerte sich, den Saal zu verlassen, bevor sich nicht mit eigenen Ohren jedes einzelne Detail aus dem Munde der Überlebenden vernommen hatte. Ihr sollte das Blut in den Adern gefrieren bei den furchterregenden Ausführungen.
Die dritte der Nyeda Schwestern war nicht mehr bei klarem Verstand. Bei einem körperlichen und geistigem Trauma dieses Ausmaßes wäre das wohl keiner. Ihre Ohren zeigten sich höchstsensibel gegenüber Männerstimmen und Berührungen. Nur die alte Holzbein ließ sie an sich heran, die ihr während dem gesamten Verhör beruhigend die Hände hielt.
»Was sind das nur für Tiere, die ihr dort oben im Norden heranzüchtet?«
Die Besitzerin des Roten Raben hatte in ihrem Leben schon viel gesehen. Übergriffige Freier waren da noch das Harmloseste. Vor seiner Zeit als Freudenhaus kannte man ihr Etablissement als düsteres Juwel unter den Waldschenken. Es war Herberge, Taverne und Bürokomplex in einem und galt als Basis der Kopfgeldjäger. Gegen Bares tauschte dort so manch gut gehütetes Geheimnis den Besitzer. Noch heute fand man zwischen all den Freiern diverse finstere Gestalten, die in den Gästezimmern des Etablissements untertauchten, wenn ihnen die Tagluft zu dünn wurde. In den letzten Tagen aber, war es still geworden in der Waldvilla, die Mama Holzbein von einer entfernten Verwandten vermacht worden war. Ob es daran lag, dass Gerüchte von zwei hochrangigen Raji’Draq die Runde machten, die im Gebiet um Nathum einem Mord aufzuklären gedachten, oder daran, dass sie den Zugang zu ihren Mädchen nach dem Vorfall stark limitiert hatte, darüber ließ sich spekulieren.
»Wir sind hier, um derartige Tiere auszumerzen, Madame.«
Arajons Blick fiel auf das geschundene Mädchen.
»Ist sie vernehmungsfähig?«
Mama Holzbein schnarrte.
»So vernehmungsfähig man sein kann, wenn man dem Massaker der eigenen Schwestern beiwohnen musste?«
Manisch strich sie Nesya über den Handrücken.
»Ich hab die drei aufgenommen, als sie noch Kinder waren, wisst ihr?«
Holzbeins Worte verrieten einen Hauch von Schuldgefühl.
»Der Rote Rabe ist kein Ort für kleine Mädchen. Doch ich hab‘ sie nie zu etwas gezwungen und sie keinem Mann überlassen, bis sie selbst darauf bestanden haben.«
Ihr Ruf war schlechter als ihr Charakter. Die Mädchen taten, was sie wollten, nicht was man ihnen auftrug. Sie alle waren aus irgendeinem Grund von Zuhause abgehauen oder vertrieben worden und fanden im Roten Raben eine Zuflucht. Ihr Geschäft hatten sie ganz alleine aufgebaut, mit Mama Holzbein als geschäftskundiger Hausherrin. Die Alte gehörte schon zum Kreis der Handelsgräfinnen, als Dakeda noch am Rockzipfel ihrer Mutter hing. Diesen Status würde sie sich auch nicht von der anmaßenden Statthalterin nehmen lassen.
»Wenn diese Person dort ihre Wachen besser im Griff hätte, wäre es überhaupt nicht so weit gekommen,« warf sie der Bezirksvorsitzenden vor.
Hinweise gab es zur Genüge. Der gestohlene Schlüssel, der Überfall auf den Waffentransport nach Seelwasser, der Leichenfledderer und sein Gehilfe. Dakeda bewies im Vorfeld schlichtweg ihre Inkompetenz.
»Ich bin nicht dafür zuständig, Eure Freier zu überprüfen,« stichelte die oberste Handelsgräfin aus dem Hintergrund. »Dass der Überfall am Bernsturz mit den Mädchen in Verbindung steht, konnte keiner ahnen.«
»Was meint Ihr damit, Lady Dakeda?«
Arajon wurde hellhörig.
»Den erstochenen Transportwachen fehlten die Augen…« Nun fiel Dakedas Blick schließlich doch noch verhalten noch auf das verstörte Mädchen. »Aber der Überfall ereignete sich Nächte vor dem Mord. Es gab kein Indiz für einen Zusammenhang.«
Im Kommandanten regte sich ein Verdacht. Er war in den letzten Nächten gereift. Angesichts der Aufmüpfigkeit eines Novizen, dem es ganz klar an Respekt für seinen General fehlte. Angesichts eines Neugeborenen innerhalb der Regentenfamilie, der irgendwann zweifelsohne die hohe Position seines Vaters erben würde. Und angesichts einer provokativen Mordserie, welche die diplomatischen Beziehungen im Grenzgebiet augenscheinlich ganz gezielt zu destabilisieren versuchte.
»Ich denke, wir haben es hier mit einem fanatischen Widerstand aus dem Untergrund zu tun,« teilte er schließlich seinen Verdacht mit den verbliebenen Anwesenden. »Vielleicht auch mit einen animalischen Blutkult…«
Das Wort Bluttrinker ließ er vorsätzlich unerwähnt. Sollte Arajon Recht behalten, und diese mordlüsterne Bestie stammte aus den Reihen seiner eigenen Blutsbruderschaft, war ausgebufftes Kalkül notwendig, um den Drahtzieher dieses Komplotts zu entlarven, ohne dabei den Ruf des rayanischen Militärs zu gefährden. Einer aber roch die Lunte schon, bevor sie entzündet wurde. Aaron hatte während den verbalen Spitzen, die Dakeda und Mama Holzbein sich gegenseitig austeilten, den Kopf hinter seinen gefalteten Händen vergraben. Nun aber fuhr sein Blick ungläubig und gähnend langsam zu seinem Kommandanten. Er glaubte seinen Ohren nicht, als er die Theorien seines Vetters vernahm. Arajon aber fuhr fort.
»Lady Nesya,« richtete er behutsam das Wort an das einzige überlebende Opfer.
»Mir ist bewusst, dass ein Rayonaigh wie ich gerade die letzte Person ist, mit der Ihr sprechen möchtet. Aber ich brauche Eure Hilfe.«
Nesya wandte den Kopf ab. Ihre Wunden begannen ein Quäntchen mehr zu schmerzen, als sie es ohnehin schon taten. Ihr Gesicht war bis auf die unheilvolle Augenbinde, die ihre leeren Orbiten verbarg, unversehrt. Die groben Blessuren an ihren Armen hatte sie unter einem grauen Umhang gut versteckt. Einen weniger aufmerksamen Betrachter als Arajon es war, wären sie kaum aufgefallen.
»Sagt mir, wie sah der Dreckskerl aus, der Euch das angetan hat?«
Kein Schluchzen vernahm sich je so still und herzzerreißend zugleich. Ermutigt durch Mama Holzbeins emsig an ihr reibende Hände, die sie in ihrer plötzlich so dunklen Welt der Grausamkeiten wenigstens etwas zu wärmen suchten, sprach sie:
»Zuerst… war er ein Mann. Dann war er ein Fuchs. Und… und dann ein Drache.«
Aaron wäre fast vom Stuhl gefallen.
»Gut, das reicht. Ich hab‘ genug gehört.«
Wirklich hören wollte er es nicht. Doch Arajon ließ nicht nach.
»War er auch ein Rabe?«
Wenn Nesya die Wahrheit sprach, hatte ihr Angreifer die ersten zwei Stufen der Animalis gemeistert und trug somit das Mal der Bluttrinker. Weiter einschränken ließe sich der Verdächtigenkreis nur, wenn er auch die dritte Stufe gemeistert hätte.
»Der Rabe…« Nesya hob den Kopf. Als suchte die Blinde am Deckengewölbe der Ratshalle nach einem Geist, erhob sie sich und begann, umher zu wandern.
»Der Rabe war in meinen Augen. Er hat alles gesehen. Und dann war er in Phyrons Augen.«
Ihre Schritte gerieten ins Wanken.
»Warum hat er die Tür nicht aufgemacht? Ich war doch ganz lieb zu ihm.«
Verzweifelt tasteten sich Nesyas Hände einen Weg entlang, den sie nie mehr gehen wollte.
»Zwanzig Schritte. Hundertzwanzig Stufen. Vierzig Schritte.«
In Gedanken ging sie den Fluchtweg ab und wurde dabei immer hysterischer.
»Zwanzig Schritte! Hundertzwanzig Stufen! Aaahhh«
Ihre Schreie drangen bis zu den Passanten vor dem Ratsgebäude, die erschrocken stehen blieben. Im Inneren des Gebäudes mühte sich die humpelnde Mama Holzbein ab, das Mädchen einzufangen.
»Zwanzig Schritte mit dem Raben! Dem Roten Raben! RATSCH, RATSCH, RATSCH! Aaahhh! Stich zu! Stich kräftig zu! Aaahhhhhhh«
Die übrigen Mädchen, die bis jetzt ganz still in den hinteren Reihen saßen, eilten Nysea und Mama Holzbein. Selbst Dakeda hielt es nun nicht länger in ihrer eitlen Pose und sie kam der alten Frau zu Hilfe, die nun endgültig fix und fertig mit den Nerven war.
»Geht,« befahl die Statthalterin den beiden Raji’Draq in bitterem Zorn, als sie Mama und ihren Weibsbildern half, die vom Wahnsinn geschwängerte Blinde aus der Halle zu schaffen. »Und lasst Aronya wissen, dass ihr Thron noch immer Nathums Klingen braucht, um ihn zu halten.«
Völlig aufgelöst und nervös schnaufend klebten Aaron und Arajon in ihren Sitzen. Aaron entfernte sich als erstes, wortlos, perplex und bis aufs Schärfste besorgt. Er war es nicht gewohnt, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Ganz anders als sein Blutsbruder, der fieberhaft über mögliche Erklärungsansätze sinnierte, während er seine Berichtsmappe zurück in die lederne Aktentasche räumte. Der Rabe passte nicht ins Bild. Einmal abgesehen davon, dass er die wenigen, die den Rabenwandel beherrschten, persönlich mit Namen kannte, waren sie alle dem Thron treu ergeben. Auch zeigte der Tathergang überwiegend das Vorgehen eines Drachenbluts. War dabei noch eine Person anwesend? Spuren, die darauf hindeuteten, fanden sich am Tatort nicht. Vielleicht würden sich bei den Ruinen von Waldsang noch unerwartete Fragmente zu des Rätsels Lösung auftun.
Es waren etwa anderthalb Meilen von Nathum zu den Hügelhäusern der Waldsiedlungen und nochmal zwei Meilen zum Bernsturz. Ihre Drachen ließen die Raji’Draq vor der Provinzstadt zurück. Das Gelände, in das sie der letzte Streckenabschnitt ihrer Aufklärungsreise führen sollte, war zu unwegsam für die prächtigen Flugechsen, daher liehen sie sich zwei stattliche Rappen aus Dakedas Gehöft für den Ausritt. Auf ihrem Weg wandelte sich die zersprengte Vulkanlandschaft des Nath in eine sagenhafte Forstszenerie. Von den Walddörfern säumte ein goldener Baumhain aus Geisterbirken den Flusslauf zu den Fällen von Bernsturz. Der Auwald formte eine natürliche Grenze zum Süden, mit Waldsang als letzter Grenzposten vor Nemesavas Territorium. Zumindest wäre es ein guter Grenzposten gewesen, wenn er nicht vor Jahren aufgegeben worden wäre und ihn kürzlich jemand in Schutt und Asche gelegt hätte. Die alte Jagdhütte wurde wie viele Hügelhäuser schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt. Die Gebiete lagen stark ab vom Schuss und durch den großen Aufschwung der Provinzen nach Kriegsende zog es mehr und mehr Familien der ländlichen Gegend in die großen Ballungszentren.
Die Waldpassage zum Jagdanwesen kam Aaron und Arajon vor wie ein nostalgischer Ritt durch längst vergangene Waldzivilisation. Verwaiste Landsitze nach alter Bauart Gardyans, die eigentlich viel zu schön waren, um sie dem Zahn der Zeit zu überlassen. Waldsang war keine Ausnahme. Die Grundmauern standen noch, was den feuchten Innenwänden nach zu urteilen wohl einem kräftigen Regenschauer zu verdanken war, der kurz nach der Brandschatzung eingesetzt haben muss. Er wusch die meisten Spuren fort, doch Arajons sonderliches Gefühl, dass sich hier eine größere Gesellschaft eingefunden hatte, bevor Waldsang Feuer fing, blieb. Sein Blick fiel über die herrlichen Waldhänge, als er inmitten der Trümmer stand. Nach Seelwasser hätte er von hier aus nicht weit gehabt, wenn er seine Liebste im Schutz der Nacht entführen wollte.
»Verliebst du dich gerade in einen Haufen Grillkohle?«
Sein Vetter war erst gar nicht aus dem Sattel gestiegen und wartete ungeduldig auf dem Schotterweg,
»Vielleicht kann man es wieder aufbauen.«
Eine Schande, so eine Perle architektonischer Pracht zu zerstören. Der hintere Teil des Gebäudes war vom Schlimmsten verschont geblieben, einschließlich des Hausbaums, dessen Wurzeln kraftvoll wie eh und je über das Dach wucherten. Der Eingangsbereich und das große Foyer allerdings waren vollständig zerstört.
»Man müsste die Stützbalken erneuern…«
Die Querschläger und Schmauchspuren deuteten auf eine Explosion hin. Arajons Finger glitten analytisch über das verkohlte Holz. Ihm entstieg ein beißender Geruch. Salpeter und Schwefel womöglich? Es gab eine nicht viele in Gardyan, die sich mit solchen Sprengstoffen auskannten.
Der Kommandant rümpfte seine Nase. Da lag noch ein weiterer Geruch in der Luft, und zwar der von verbranntem Fleisch. Man nahm ihn nur ganz leicht wahr. Höchstwahrscheinlich die Überreste eines Wildbrets. Jemand gönnte sich offenbar einen letzten Schmaus bevor alles in Flammen aufging. Aber ein ganzes Wild für einen alleine?
»Raj, ich wär‘ gerne zum Schulabschluss meines Sohnes wieder zuhause,« quakte Aaron vom Wegesrand. »Denkst du, das ließe sich im Rahmen deiner Bruchbudenromantik einrichten?«
Den nicht ganz so stillen Protest außer Acht lassend, sammelte Arajon einige Proben. Akribisch füllte er kleinere Aschehäufchen von jedem Ausdehnungspunkt der Explosion zur weiteren Untersuchung in die Probenfläschchen, die er sicher in der Innentasche seines Jackets verwahrt hatte. Die Alchemisten in Rubinstadt wüssten schon etwas damit anzufangen. Nach sorgfältiger Abschlussbetrachtung des Brandherdes wollte er sich gerade zurück zum instabilen Treppenaufstieg wenden, da blitzte an der marodierten Türschwelle etwas durch die Aschehaufen. Es war klein und doch aufwändig behauen. Arajon hob es verblüfft auf.
»Bei Arayonas Zitzen…«
Allmählich wurde es Aaron zu zugig auf seinem Rappen. Seine schweren Kettenstiefel versanken beim Absitzen etwas in dem vom Regen eingeschlämmten Boden.
»Wirst du wohl endlich nachgeben?«
Diese ganze Anhörung hatte seine Geduld ausgereizt. Fest entschlossen, seinen Vetter zurück auf sein Pferd zu scheuchen, erklomm er je zwei der Treppenstufen auf einmal.
»Wie kann man nur so verbissen sein?«
Sein beschwingter Schritt sollte von einem runden, metallischen Gegenstand gestoppt werden, den ihm Arajon wuchtig vor die Brust schlug.
»Verbissen? Der Einzige, der hier verbissen sein sollte, bist du!«
Verwirrt blickte der General auf das Emblem, das ihm soeben in die Hände fiel. Seine Augen weiteten sich. Vor ihm schimmerte das durchstoßene Emblem der Sionnaigh. Sein Emblem. Die Sion stellten den Clan seiner Gattin, deren Oberste Klinge er durch ihre Heirat geworden war.
»Hör auf dich blind zu stellen. Du steckst in der Sache tiefer drin, als du wahrhaben willst.«
Arajon schien bei Weitem mehr zu wissen oder zu erahnen als er verlauten ließ.
»Was glaubst du eigentlich, warum Zakane gerade auf dem Weg…«
Zu viel gesagt. Arajon biss sich auf die Lippen.
»Auf dem Weg wohin?«
Langsam dämmerte Aaron, dass er einige entscheidende Sachverhalte außer Acht gelassen hatte. Verärgert über seinen eigenen Mangel an Weitsicht packte er Arajon am Kragen.
»Auf dem Weg wohin?!«
Ein Blickwechsel so hart wie Stahl sagte dem General alles, was er wissen musste. Er brüllte seinen Weggefährten an, ehe er innerlich tobend von ihm abließ und zurück zu seinem Pferd stapfte. Der Kommandant stapfte ihm nach. Nur zu fassen bekam er ihn nicht mehr. Seinem Ross die Sporen gebend, jagte Aaron bereits zurück nach Nathum.
»Verdammte Scheisse,« fluchte Arajon.
Das Fuchsblut würde den ganzen Plan ruinieren. Eigentlich wollte er sich hiernach umgehend auf zu seiner Herrin in Seelwasser melden. Den Teil der Reise konnte er nun vergessen. Doch irgendetwas musste er ihr sagen, irgendwie. So entschied er sich, den Roten Raben aufzusuchen anstatt seinen Vetter zu verfolgen.
»Ist der Rabenbote noch aktiv,« erkundigte er sich, als er unter größtem Zeitdruck die nur allzu vertrauten Korridore der ehemaligen Schurkenbastion entlang jagte. Seine Schreibfeder zögerte einen Augenblick, bis er die richtigen Worte fand.
»Den Schnellsten,« orderte er danach an der Bar einen jener roten Raben, die der geschichtsträchtigen Villa ihren Namen gaben und schob seinen frisch verfassten Brief mit vier Silberlingen über den Tresen.
Das Anwesen hatte nichts von seiner rustikalen Schönheit eingebüßt. Vielmehr hatten die Damen, die hier ihren Liebesdiensten nachgingen, alles daran gesetzt, ihr Etablissement noch prächtiger zu gestalten. Wohnlich war er geworden, der mehrstöckige Bau, mit extravaganten Badehäusern, Studierzimmern, und sogar einem hauseigenen Trainingsgelände. Sie waren wehrhaft, diese Dirnen. Doch das würde nichts daran ändern, dass sich den zahlreichen düsteren Kapiteln des Roten Raben dieser Tage ein weiteres hinzufügte.
Bedrohlich thronten die Speerpalisaden auf den Dächern der Villa, als der schwarze Vogel der Abenddämmerung entgegen flog. Hoffentlich würde er rechtzeitig eintreffen. Arajon tat es nicht. Als er wieder in Nathum ankam, stand der Mond bereits am Himmel und Aarons Drache war weg. Es würde ein eisiger, temporeicher Flug werden, wenn er ihn noch einholen wollte. Nun würde sich herausstellen, ob Rasheku noch zu alter Höchstform auflaufen konnte und sein Reiter sich noch auf die Kunst des Häuserkampfes verstand.